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Gerichts-Präsidentin: «Hatte Einblick in die Abgründe des Lebens»


Gerichtspräsidentin Andrea Staubli in ihrem Büro im Falkengebäude: «Auch Richter sind nur Menschen.» Quelle: Chris Iseli

Nach knapp zwei Jahrzehnten als Gerichtspräsidentin am Bezirksgericht Baden hört Andrea Staubli Ende Monat auf. Im Interview verrät Sie, wie sich ihr Menschenbild aufgrund ihrer Tätigkeit verändert hat.

Vom Büro der Gerichtspräsidentin Andrea Staubli (49) bietet sich ein exklusiver Blick auf den Schulhausplatz. Vor neun Jahren zügelte das Bezirksgericht vom Bezirks- ins Falkengebäude. «Ich habe wahrscheinlich das attraktivste Büro bekommen», sagt Staubli lachend. Während der Arbeit wird sie diese Aussicht über die Hochbrücke und auf die Lägern wohl nur beschränkt geniessen können, wie ein Blick auf den Arbeitstisch verrät: Dutzende von Dossiers stapeln sich dort. Viel Zeit, all die Akten zu studieren, bleibt Staubli indes nicht mehr. Heute Sonntag wird ihre Nachfolge gewählt; Staubli wird das Gericht Ende Monat nach knapp zwei Jahrzehnten als Gerichtspräsidentin verlassen. Frau Staubli, wie hat Ihr Beruf Sie in den letzten 20 Jahren als Mensch verändert; wie hat er Ihr Menschenbild geprägt? Andrea Staubli: Zusammengefasst: Ich haben einen grossen Realitätsbezug zum Leben erhalten. Ich weiss heute sehr viel darüber, wie das Leben in der Gesellschaft – und zwar auf allen Stufen – abläuft. Es gab aber zu Beginn meiner Tätigkeit eine Phase, in der das Gefühl aufkam, die Menschheit sei schlecht. Als Gerichtspräsidentin bekommt man Einblick in alle möglichen Lebensmodelle und natürlich auch in alle Abgründe und Schattenseiten des Lebens. Was haben Sie getan, um dieses negative Menschenbild wieder zu korrigieren? Schwierig zu sagen. Ich glaube, ich habe mit den Jahren gelernt, dass man versucht, allen Menschen Respekt entgegenzubringen, ganz egal was sie getan haben. Geholfen hat mir dabei auch meine Mediationsausbildung, wo ich gelernt habe, Menschen zu verstehen und offen auf sie zuzugehen. Das tönt zwar schön. Doch verhält man sich wirklich so, wenn man zum Beispiel einem Mörder gegenübersitzt? Haben Sie im Gericht nie die Fassung verloren, wenn ein Verurteilter Sie offensichtlich angelogen hat? Viele Menschen denken bei der Richtertätigkeit an Strafverfahren, obwohl diese Verfahren neben dem Zivil- und Familienrecht einen kleinen Teil bilden. Doch zu Ihrer Frage: Als Richter sollte man jedem Angeklagten respektvoll gegenübertreten und während einer Verhandlung die Fassung nicht verlieren. «Sollte». Das heisst, es gelang Ihnen nicht immer? Auch wir Richter sind nur Menschen. Es ist ganz selten schon mal vorgekommen, dass ich die Fassung verlor oder sogar einmal laut mein Gesetzbuch auf den Tisch knallte. Manchmal wünschte ich mir einen Richterhammer (lacht). 20 Jahre Gerichtspräsidentin. Welche Fälle bleiben Ihnen in besonderer Erinnerung? Das sind vor allem zwei: Ende der 90er-Jahre der Holocaustlügner-Prozess, bei dem auch ein Verleger aus Würenlos angeklagt war. Das Medieninteresse war enorm und bei der Verhandlung tauchten Neonazis auf. Der zweite Fall war ein Betrugsfall, der rund 250 Bundesordner umfasste. Die grosse kriminelle Energie, die der Angeklagte in diesem Fall an den Tag legte, war unglaublich und eindrücklich – vor allem, weil er selber der Überzeugung war, nichts Falsches getan zu haben. Neonazis an einer Gerichtsverhandlung. Bekommt man es da nicht mit der Angst zu tun? Das war das einzige Mal in 19 Jahren, dass ich bedroht wurde. Hatten Sie nie Angst, wenn Sie am Abend das Gerichtsgebäude verliessen, Angehörige oder Freunde eines Verurteilten könnten Sie abpassen? Nein, wirklich nicht. Wenn man die Verurteilten respektvoll behandelt – was nicht heisst, dass ich die Tat gutheisse –, dann akzeptieren sie einen auch als Menschen, der seinen Job macht. Haben Sie – bleiben wir mal beim Strafrecht – einen Verurteilten je wieder auf offener Strasse angetroffen? Nein, was wohl damit zusammenhängt, dass der Deliktsort den Gerichtsort bestimmt. Die Menschen leben in den seltensten Fällen dort, wo die Verhandlung stattfindet. Hatten Sie nach einem Urteil nie Zweifel, doch falsch geurteilt zu haben? Nein. Viel eher sind die Phasen vor einer Urteilsfällung schwierig. Manchmal musste ich einen Entscheid erst zweimal überschlafen, ehe ich mich zu einem Urteil durchringen konnte. Denn Juristerei ist keine exakte Wissenschaft, es gibt immer einen grossen Ermessensspielraum. Hilft es nicht auch zu wissen, dass man «nur» die 1. Instanz ist, ein Fehlurteil also noch korrigiert werden könnte? Im Hinterkopf ist das tatsächlich eine Entlastung; das Wissen, dass ein Urteil theoretisch nochmals überprüft werden kann – auch wir Richter sind nicht fehlerlos. Wie nervig ist es denn, wenn man vom Obergericht zurückgepfiffen wird? Das ist von Fall zu Fall ganz verschieden. Die Reaktionen können von «ja, das kann man auch so sehen» bis «das kann ich jetzt nicht nachvollziehen» reichen. Umso grösser ist jeweils die Befriedigung, wenn man vom Bundesgericht Recht erhält. Als Richterin haben Sie sehr viel Macht. Gibt das einem auch einen Kick? Also ich hatte dabei nie einen Kick (lacht). Aber klar, man muss sich der Macht bewusst sein und mit dieser verantwortungsvoll umgehen. Es gibt auch Situationen in einer Verhandlung, in denen ich meine Autorität einsetzen muss. Auch bei der Urteilsberatung, die bei grösseren Fällen zusammen mit Laienrichtern geschieht? Fliegen da auch mal die Fetzen? Das kann schon mal passieren (lacht). Wichtig ist, dass immer das Recht die Richtschnur bildet. Ziel ist es, ein einstimmiges Urteil zu fällen. Aber ist das Gefälle nicht sehr gross. Hier die Profi-Juristin, da die Laien, die ebenso gut an einem Stammtisch sitzen könnten? Das trifft die Realität nur bedingt. Es gibt Laienrichter, die schon sehr lange dabei sind und entsprechend über viel Erfahrung verfügen. Zudem ist es gerade für mich als Juristin sehr wertvoll, wenn ich über Laienrichter wie Architekten oder einen Treuhänder verfüge, die viel Spezialwissen mitbringen. Wie schaffen Sie es, sich von Ihrem Beruf abzugrenzen nach Feierabend? Die menschlichen Tragödien waren vor allem zu Beginn schon sehr belastend. Am Bezirksgericht ist man sehr nahe an den Menschen, was für mich aber auch den Reiz ausmacht. Ganz am Anfang meiner Tätigkeit sagte eine Dolmetscherin zu mir: «Wenn Sie so weitermachen, dann machen Sie diesen Job nicht lange.» Dies weil ich mich emotional derart intensiv eingelassen hatte. Mit den Jahren habe ich gelernt, mich abzugrenzen, indem ich mir immer wieder sage, dass ich für die Schicksale der Menschen keine Verantwortung trage. Macht es für Sie einen Unterschied, ob ein Gerichtsreporter im Saal sitzt? Eigentlich nicht. Aber es gab Fälle, wo ich die Anwesenheit eines Journalisten bewusst dazu genutzt habe, ein kniffliges Urteil so zu erklären, dass es dann auch das Volk versteht. Haben Sie sich auch schon geärgert über Gerichtsberichtserstattungen? Es gab schon Fälle, bei denen ich für mich dachte: «Himmelnochmal, war der Reporter wirklich an der gleichen Verhandlung?!» Wieso sind Sie Juristin geworden? Ich wollte etwas Bodenständiges machen. Wie bitte? Die trockene Jurisprudenz ist doch alles andere als bodenständig? Das Studium war in der Tat fernab vom Leben. Das Recht hat erst mit der praktischen Tätigkeit hier am Gericht zu leben begonnen. Auch erst am Gericht zeigt sich, wer sich für die Richtertätigkeit eignet. Nämlich wer? Diejenigen, deren Ziel es ist, tragfähige und nachhaltige Lösungen zu finden, die den Parteien dienen. Das juristische Fachwissen muss als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden. Sie sind 49 Jahre alt und verlassen das Gericht. Sie gehen wohl kaum in Frühpension? Nein. Ich habe mich entschieden, mich beruflich dort einzusetzen, wo ich mein Herzblut habe – in der Mediation. Aussergerichtliche Lösungen sind sehr befriedigend. Kein Zusammenhang mit den knappen Ressourcen, vor allem bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde? Doch auch. Die angespannte personelle Situation ist in der Tat sehr unbefriedigend. Die Politik müsste dafür Verantwortung übernehmen. Denn am Ende geht es immer um Menschen. Heute werden Fälle regelrecht «erledigt»; das entspricht nicht mehr meinen Vorstellungen von Qualität. Und dabei geht es uns genau darum: gute Lösungen für die Menschen suchen. Mit den jetzigen Rahmenbedingungen ist das aber sehr schwer. (Schweiz am Sonntag)

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